Jahresversammlung 2016

Mitgliedertreffen auf dem Kultur-Gut Ermlitz, 22.–24. April 2016

Der 200. Todestag von August Apel (1771–1816), dem Autor der Freischütz-Geschichte (der Libretto-Vorlage der gleichnamigen Oper), war der Grund für die Weber-Gesellschaft, ihre Mitgliederversammlung erneut (nach einem ersten Besuch im Jahr 2004) im beschaulichen Ermlitz vor den Toren Leipzigs abzuhalten, im ebenso repräsentativen wie idyllisch gelegenen ehemaligen Apelschen Herrenhaus. Apels Ururenkel, unser ehemaliges Mitglied Gerd-Heinrich Apel (1931–2012), der letzte Namensträgerder Familie, hatte das im Zuge der Bodenreform enteignete Gutshof-Ensemble mit barockem Herrenhaus und Park um den Jahreswechsel 2000/2001 zurückerworben, mit bewundernswerter Energie die Restaurierung vorangetrieben, Teile der ehemaligen Sammlungen (Archiv, Bibliothek, Familienbildnisse) und der Ausstattung (Möbel, Musikinstrumente) aufgespürt und in teils zermürbenden Verhandlungen deren Rückübereignung vorangetrieben, um schließlich den gesamten Besitz in die „Apelsche Kultur-Stiftung“ einzubringen, die gleichermaßen das Erbe seiner Vorfahren bewahren, die Auseinandersetzung mit deren Hinterlassenschaft befördern und kulturelle Werte an die kommenden Generationen vermitteln soll – also eine Erinnerungsstätte an das Wirken der in Leipzig und Umgebung über 300 Jahre so einflussreichen Familie und ein Ort kultureller Traditionspflege. Auch wenn sich nicht alle Hoffnungen erfüllten; die Fortschritte des Projektes seit der ersten Zusammenkunft der Gesellschaft in Ermlitz können sich sehen lassen, und trotz der unterkühlten April-Tage war die Begeisterung der Anwesenden ungeteilt!

Eröffnet wurde das Treffen am Freitag Abend (22. April) durch einen Vortrag von Dorothea Böck, die sich seit Jahren um die Erforschung des „Musenhorts“ Ermlitz verdient gemacht hat. Sie bemühte sich um eine Einordnung der Person August Apels und vor allem seines Schaffens in die literarischen und ästhetischen Strömungen und Debatten der Zeit um 1800. Die Vertreter der sächsischen, speziell der Leipziger Romantik galten, ebenso wie die Literaten des Dresdner Liederkreises, der traditionellen Literaturwissenschaft meist als Poetae minores, ihr Werk weitgehend als Trivialliteratur, einer genaueren Betrachtung kaum wert. Erst in den letzten Jahrzehnten macht sich ein Umdenken bemerkbar. Unter soziologischen Gesichtspunkten ist anhand des Wirkens solcher Autoren aus der „zweiten und dritten Reihe“ die Herausbildung eines neuen Kulturtyps zu erkennen: Parallel zum sprunghaften Anwachsen der Alphabetisierungsrate der Bevölkerung um 1800 wuchs auch die Zahl der Adressaten von Literatur; sie richtete sich nicht mehr ausschließlich an eine Bildungs-Elite, sondern entwickelte sich mehr und mehr zu einem Massenphänomen. Diese neue Breitenkultur wurde von der „Literatur-Fabrik“ Leipzig mit ihrem starken Verlagswesen als Motor einer neuen „Kulturindustrie“ mit immer neuem Nachschub versorgt. Viele Mitglieder des Apel-Kreises wie Karl Spazier, Siegfried August Mahlmann, Friedrich Kind, Friedrich Rochlitz oder Friedrich Laun „bedienten“ die neuen Leserkreise mit vielgelesenen Journalen wie der Zeitung für die elegante Welt oder der Allgemeinen musikalischen Zeitung, mit beliebten Almanachen wie dem Taschenbuch zum geselligen Vergnügen und ähnlichen Magazinen sowie Unterhaltungsliteratur. August Apel hatte freilich eine Ausnahmestellung unter diesen Publizisten, verfügte er doch über einen finanziellen Hintergrund, um den ihn die meisten seiner Freunde, die vom Ertrag ihrer Schriften leben mussten, beneideten. Er konnte ganz seinen Neigungen folgen. Vielseitig interessiert publizierte Apel ohne pekuniäre Notwendigkeit Aufsätze, Dichtungen und Abhandlungen in verschiedenen Zeitschriften und Almanachen; sein größter kommerzieller Erfolg war das gemeinsam mit Laun vorgelegte Gespensterbuch, zu dem mehrere Folgebände erschienen. Sein wohl bedeutendstes Werk ist die 1814/16 in zwei Teilen vorgelegte Metrik.

Gemeinsam mit Gerd-Heinrich Apel hat Dorothea Böck August Apels Tagebücher ausgewertet, die aus den Jahren 1809 bis 1816 vorliegen. Interessant ist, dass Apel zwischen die Tagesereignisse auch mehrfach autobiographische Abschnitte einfließen ließ, in denen er sein Leben Revue passieren ließ. Oberflächlich betrachtet lesen sich diese Passagen wie das Protokoll eines „unspektakulären Müßiggangs“, tatsächlich versuchte Apel aber seine Vita unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Prägung zu skizzieren und Einflüsse auf seine geistige Entwicklung zu reflektieren. Die Tagebücher bieten darüber hinaus einen interessanten Einblick in das geistig-kulturelle Leben Leipzigs zu Beginn des 19. Jahrhunderts. War Leipzig das „Gravitationszentrum“ im Leben und Schaffen August Apels, so fungierte Ermlitz als Rückzugsort, als ein „romantischer Fluchtpunkt“.

Der Samstag begann mit einer Führung durch das Haus und seine Sammlungen, zu der die Gastgeber einluden: Arnd und Gabriela Mackenthun, die nach dem Tod des letzten Apel als nächste Verwandte die Leitung des Stiftungsrats bzw. des Fördervereins übernommen haben. Sie beschrieben das Wirken der Leipziger Apel-„Dynastie“ seit ihrem „Gründervater“, dem Seidenwarenhändler und Fabrikanten Andreas Dietrich Apel (1662–1718), den kommerziellen Aufstieg und das gesellschaftliche Renommee der Familie sowie die künstlerischen Interessen einzelner ihrer Mitglieder, widmeten sich aber ebenso der Baugeschichte des Gutshauses in Ermlitz und dessen jüngerer Vergangenheit. Familienbildnisse (u. a. Gemälde von Anton Graff und Moritz Retzsch) und Abbildungen von Leipziger Apel-Stätten sowie stimmungsvolle Interieurs (darunter auch das Jagdzimmer mit seiner Deckengestaltung aus der Zeit um 1900) illustrierten die Ausführungen. Einer der Höhepunkte der Führung war die elegante Raumflucht der fünf Gesellschaftszimmer in der Beletage, wo wenigstens im sogenannten Roten Salon die wertvollen gemalten Leinwandtapeten nach ihrer fachgerechten Restaurierung wieder ihren ganzen Reiz entfalten. Man kann nur bedauern, dass die Restaurierung des wesentlich umfangreicheren Bestands an Wandbespannungen (insgesamt 310 m²) nach Abschluss des Pilotprojektes (Ende 2010) aus finanziellen Gründen zum Erliegen kam, denn ein vergleichbares Ensemble handgemalter textiler Tapeten aus den frühen 1770er Jahren wird man andernorts kaum finden – ein wirklicher Schatz! Schätze hatte aber auch das zweite Obergeschoss zu bieten: Im Treppenhaus dokumentierte eine kleine, aber feine Vitrinen-Ausstellung die engen Kontakte zwischen Richard Wagner und seinem Jugendfreund Theodor Apel (1811–1867), dem Sohn August Apels (u. a. mit mehreren Wagner-Briefautographen). Im ehemaligen Ahnensaal und seinen Nachbarräumen konnten die im Bestand leider stark reduzierten Bibliotheks- und Archivbestände bewundert werden; besondere Aufmerksamkeit fanden August Apels handschriftliche Tagebücher (u. a. mit Notizen zu seinem Zusammentreffen mit Carl Maria von Weber), aber auch bibliophile Kostbarkeiten aus mehreren Jahrhunderten.

Traditionspflege ganz anderer Art erläuterten im Anschluss Solveig Schreiter und Joachim Veit: Sie präsentierten erstmals öffentlich die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts Freischütz Digital, das die neuartigen Möglichkeiten rein digitaler Editionsmethoden am Beispiel von Webers berühmtester Oper ausloten und in Form einer exemplarischen Musteredition Modelle für zukünftiges philologisches Arbeiten liefern sollte. Dazu arbeiteten Wissenschaftler der Universitäten in Frankfurt/Main (Institut für Musikwissenschaft) und Paderborn (Institut für Informatik), der International Audio Laboratories Erlangen sowie des Musikwissenschaftlichen Seminars Detmold/Paderborn zusammen; die Datenbasis lieferte zu großen Teilen die Weber-Gesamtausgabe, auf deren digitale Edition der Briefe, Tagebücher, Schriften und Dokumente ebenso zurückgegriffen werden konnte, wie auf die im Entstehen begriffene „analoge“ Freischütz-Ausgabe. Zusätzlich zur traditionellen Musik- und Librettoedition, die – unabhängig davon, ob Papier- oder Bildschirm-gestützt, – immer den Kern bilden wird, bietet die online präsentierte (und somit hinsichtlich der Datenmengen quasi nicht limitierte) Computerphilologie neben dem Service der Bereitstellung und direkten Vergleichbarkeit von hochwertigen Faksimiles aller authentischen bzw. autorisierten Quellen für den Editor ebenso wie für den „Nutzer“ der Ausgabe (wie sie bereits vom Edirom-Projekt entwickelt wurde) theoretisch unbegrenzte Möglichkeiten der Kontextualisierung der Daten. Quellen zur Werkgenese (Hinweise aus Briefen, Tagebüchern, Archivalien etc.) und Werkrezeption (Rechnungsbelege für Aufführungsmaterialien, Presseankündigungen, Aufführungsbesprechungen u. ä.) können direkt mit dem Kritischen Bericht verlinkt werden; einem Kritischen Bericht, der freilich nicht mehr der gewohnten Form einer schwer lesbaren „Datenwüste“ entspricht, sondern quasi flexibel auf die Bedürfnisse des Nutzers reagiert, der bestimmte Schwerpunkte setzen oder spezielle Fragestellungen an die Edition richten kann. Um darüber hinaus edierten Text und Quellen-Texte direkt aufeinander beziehen zu können, waren sie mittels stabiler, langfristig haltbarer und international standardisierter Computersprachen zu codieren (innerhalb der Musikedition in MEI, bezüglich reiner Texte in TEI). Diese Codierung ermöglicht die Durchsuchbarkeit aller Quellentexte, eine übersichtlichere Darstellbarkeit textgenetischer Prozesse bzw. der Abfolge verschiedener Textschichten in den Quellen, schafft aber auch für spätere Forschungen anderer Wissenschaftler Basisdaten und Schnittstellen, die offen für weitere Verknüpfungen sind. Anders als in der traditionellen Edition, in der der Herausgeber alleinverantwortlich Entscheidungen trifft und treffen muss (auch dort, wo mehrere gleichrangige, gleich plausible Varianten einander gegenüber stehen), erlaubt die Edition nun eine größere Offenheit. Und ganz im Gegensatz zum klassischen Ansatz, nach dem der „Urtext“ von allen späteren, nicht vom Komponisten gewünschten Überformungen und Zusätzen zu „reinigen“ ist (was das Ziel jeder traditionellen Print-Edition bleibt), lassen sich wichtige Dokumente zur Werkrezeption stärker in die Darstellung einbeziehen (beispielsweise postume Editionen, welche für die Werküberlieferung von besonderer Bedeutung waren, sowie Erläuterungen zur Interpretation von fremder Hand). Ziel des Projekts war also nicht die Erstellung eines (auch für die Praxis geeigneten) Werktextes, denn dies hätte eine bloße Verdoppelung der Arbeiten der Weber-Gesamtausgabe bedeutet, sondern die Präsentation verschiedener überlieferter Textformen und das Ausloten von Möglichkeiten, die sich erst durch eine Codierung dieser Notentexte ergeben. Zusätzlich lag ein Schwerpunkt der Arbeit in der Dokumentation der Stoffgeschichte: Zum Libretto des Freischütz existieren Vorläufer (wie Apels Novelle und deren Quellen, aber auch andere Texte, auf die Friedrich Kind zurückgriff) sowie parallel entstandene Dramatisierungen derselben Thematik. Das Beziehungsgeflecht dieser Texte untereinander, von bestimmten mehrfach auftauchenden inhaltlichen Motiven, Requisiten, Personen, Handlungsmomenten und -orten etc. ist übersichtlich darstellbar. Nur am Rande wurde ein weiteres Themenfeld innerhalb von Freischütz Digital angesprochen: Die Verknüpfung des Notentextes mit Audio- bzw. Video-Aufnahmen und deren Segmentierung (zu einer Nachbearbeitung historischer Aufnahmen, die als Fernziel direkte Interpretationsvergleiche bis hin zum Nachverfolgen einzelner Stimmen durch Ausfiltern ermöglicht). Als Arbeitsgrundlage wurden in der Detmolder Musikhochschule drei Nummern der Oper mit Hilfe spezieller Aufnahmetechniken eingespielt; zur Auftrennung des Gesamtklanges wurden von den Erlanger Wissenschaftlern Algorithmen entwickelt, deren Gültigkeit dann anhand der Aufnahmen überprüft werden konnte. Hinzu kamen Versuche zur Reduzierung des sogenannten „Übersprechphänomens“ bei Mikrophonen. Die Ergebnisse dieser interdisziplinären Grundlagenforschung stehen nun als Basis für künftige Forschungen zur Verfügung.

Solveig Schreiter und Joachim Veit betonten zum Abschluss nochmals diesen Aspekt der Grundlagenforschung, der auch bedeutet, dass manche Ergebnisse anders ausfielen als erwartet und dass sich bestimmte, zu Beginn des Projekts gehegte Träume nicht erfüllen ließen. Freischütz Digital sei aber – wie alle solche Vorhaben – kein mit dem Auslaufen der Finanzierung wirklich abgeschlossenes Projekt, sondern soll auch künftig um zusätzliche Aspekte erweitert bzw. in den noch unvollkommenen Teilen weiterentwickelt werden (immer vorausgesetzt, dass sich dies auch technisch umsetzen lässt).

Die Mittagspause ermöglichte neben einem leckeren Imbiss den Austausch über das Gehörte, gab aber auch Gelegenheit für einen entspannenden Spaziergang durch den Park oder in den Ort. Nach Mitgliederversammlung und Kaffeepause erwartete die Mitglieder dann ein weiterer Höhepunkt: Ein kleines Konzert auf dem historischen Apelschen Hammerklavier der Wiener Firma Brodmann, auf dem einst (am 3. September 1812) Weber selbst musiziert hatte. Apel hatte dazu in seinem Tagebuch notiert: Weber „spielte eine neue Sonate, ungeheuer schwer“ – eben diese Klaviersonate Nr. 1 brachte nun Christian Hornef zu Gehör. Besonders im langsamen Satz entfaltete das historische Instrument einen ganz besonderen Klangzauber und Farbenreichtum. Das leichte Ansprechen der Mechanik (mit dem Tastendruck moderner Klaviere nicht vergleichbar) ermöglichte zudem im virtuosen Finale ein geradezu atemberaubendes Tempo. Gerne hätte man gewusst, wie Weber einst mit den „Tücken“ des Flügels umging: Dessen Tastatur endet mit dem g3, während die Sonate bis zum c4 reicht! Die von Hornef gewählten Lagenwechsel wirkten jedenfalls plausibel. Umrahmt wurde diese Darbietung durch mehrere Kompositionen für Flöte (gespielt von Johanna Schlag) und Klavier (Romanze F-Dur, Nocturne op. 142, Rondeau op. 97/2) von Anton Bernhard Fürstenau, jenem Flötisten, der unter Weber in der Dresdner Hofkapelle angestellt war und der den Komponisten auf seiner letzten Reise nach London begleitete. Insgesamt hatten die musikalischen Beiträge durch den intimen Rahmen, der nur eine begrenzte Zuhörerzahl zulässt, weniger den Charakter eines wirklichen Konzerts als den einer fast privaten Salonmusik – ganz wie einst bei Webers Besuch; und „viel geschwazt“ wurde danach nicht nur 1812 (wie Weber in seinem Tagebuch festhielt), sondern auch beim anschließenden gemütlichen Beisammensein der Weber-Gesellschaft, das durch ein üppiges Buffet gekrönt wurde.

Der sonntägliche Ausflug galt dem Museum für Druckkunst in Leipzig und wurde trotz Schneefalls und Leipzig-Marathon (den die Weberianer sogar streckenweise von der Straßenbahn aus miterlebten) ein voller Erfolg. Die Direktorin der beeindruckenden Sammlung zur Industriekultur, Frau Susanne Richter, gab eine im Wortsinne anschauliche Einführung zu den Techniken des Hoch-, Tief- und Flachdrucks, die sie direkt an den entsprechenden Maschinen und mit den dazugehörigen Arbeitsutensilien vorstellte. Danach wurden in der Spezialabteilung zum Musikdruck die Techniken des Typendrucks, des Notenstichs, der Lithographie und die technischen Weiterentwicklungen des späten 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit erklärt – ein spannender, detailreicher Einblick in das Druck- und Verlagswesen, das Leipzig gerade hinsichtlich der Musikbranche wie keine andere Stadt in Deutschland geprägt hat. Die Vielzahl von ebenso geduldig wie kenntnisreich beantworteten Nachfragen aus dem Kreise der Teilnehmer bezeugte die Faszination, die diese technik- wie kulturhistorisch eindrucksvolle Präsentation entfaltete.

Auch das 26. Mitgliedertreffen der Weber-Gesellschaft hatte also ein vielseitiges Programm zu bieten; allen an der Vorbereitung und Durchführung Beteiligten, dem Vorstand der Gesellschaft, besonders aber dem gastgebenden Ehepaar Mackenthun in Ermlitz und seinen Mitstreitern sei dafür herzlich gedankt! Die Mackenthuns haben uns Ermlitz erneut als gastlichen „Musenhort“ näher gebracht, der sicherlich noch lange in positiver Erinnerung bleiben wird.

Frank Ziegler