Jahresversammlung 2002

Mitgliedertreffen in Görlitz und Wrocław (Breslau), 25.-27. Oktober 2002

Jede Mitgliederversammlung der vergangenen Jahre setzte ihre eigenen Schwerpunkte, ist mit ganz speziellen Erlebnissen verknüpft. Die letztjährige Zusammenkunft in Görlitz und Wrocław (Breslau) wird aber – soviel lässt sich wohl jetzt schon sagen – als eine ganz besondere, beglückende in Erinnerung bleiben. Erstmals hatte sich die Gesellschaft entschlossen, ihre Internationalität ganz wörtlich zu nehmen und ein Treffen im Ausland zu organisieren. Dabei war recht schnell die Entscheidung für Webers ehemaligen Wirkungsort Breslau gefallen, einstmals preußische Provinz-Hauptstadt, heute Zentrum des polnischen Schlesien, in dem nach den verheerenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts nun die Chancen, die aus der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte erwachsen, wieder verstärkt wahrgenommen werden; ein Verständnis, das hilft, die tiefen Wunden der Geschichte allmählich zu heilen.

Das Interesse am alten Breslau wie am neuen Wrocław war erfreulich groß – kaum je hatte sich ein so großer Mitgliederkreis zusammengefunden. Begünstigt wurde dies durch die professionelle Vorbereitung: Unsere Vorsitzende Irmlind Capelle leistete auf dem ihr gänzlich neuen Feld als Reiseleiterin beste Arbeit, umsichtig unterstützt vom Görlitzer Reisebüro Richter, das zu sehr moderaten Preisen angenehme Hotels und einen bequemen Bustransfer organisierte. Im Besonderen ist der Karol-Lipiński-Musikakademie in Wrocław und ihrem Rektor Prof. Grzegorz Kurzyński für die großzügige Gastfreundschaft zu danken, die entscheidenden Anteil daran hatte, daß das Mitgliedertreffen so harmonisch und reich an Eindrücken verlief. In der Musikakademie hatte unser einziges polnisches Mitglied die Fäden geknüpft: Frau Prof. Dr. Maria Zduniak. Ohne ihr außerordentliches Engagement wäre die Idee einer Zusammenkunft der Weber-Gesellschaft in Breslau wohl nie in die Tat umgesetzt worden; das gedrängte, reizvolle Programm, das sie organisiert hatte, ließ die beiden Tage in der Oder-Stadt wie im Fluge vergehen.

Zur Erleichterung der Anreise war Görlitz als Treffpunkt der Weberianer gewählt worden; ein Ort der eigentlich einen längeren Besuch verdient hätte, denn die von Kriegs-Zerstörungen weitgehend verschonte Stadt präsentiert sich nach vierzigjährigem „Dornröschenschlaf“ – ein Wort, eigentlich zu harmlos für die Unterlassungssünden der DDR-Zeit – wieder als städtebauliches Kleinod, als ein Potpourri aus wundervollen Preziosen verschiedenster Jahrhunderte von Gotik bis Jugendstil. Nach solchen Eindrücken in bester Stimmung traf man sich am Abend des 25. Oktober im Hotel Mercure zu einem ersten geselligen Beisammensein; das exquisite Büffet trug nicht unwesentlich zum Wohlbefinden bei. Ob Weber ähnlich verwöhnt wurde, als er 1807 in Görlitz auf der Reise von Schlesien nach Württemberg in der Nacht vom 8. zum 9. März Station machte?

Weber verließ die Stadt gen Westen; die Weberianer wählten die entgegengesetzte Richtung: Am Samstagmorgen ging es per Bus durch die herrliche niederschlesische Landschaft nach Wrocław. Erstes Ziel war die ehemalige Dominsel, das geistliche Zentrum der Stadt. Frau Prof. Zduniak hatte den Kunsthistoriker Herrn Sachs, Kulturattaché im deutschen Generalkonsulat in Wrocław, als erstklassigen Stadtführer gewinnen können, der auf dem kurzen Weg von der Nepomuksäule vor der Kirche zum hl. Kreuz und zum hl. Batholomäus vorbei an den Kurien-Gebäuden in den Dom, weiter zur Sandinsel mit der Marienkirche und zurück zur Dominsel mit der ehemaligen Burgkapelle, der Martinskirche, die vielfältigen historischen wie kulturgeschichtlichen Einflüsse, die den „Schmelztiegel“ Schlesien formten, ins Bewußtsein rief. Auch hier konnte übrigens Frau Prof. Zduniak – diesmal im Wortsinne – alle Türen öffnen, und die Möglichkeit, im Dom auch den Chor und die überwältigenden Barock-Kapellen, die Elisabeth- und die Kurfürstenkapelle, besichtigen zu dürfen, war allein die Reise nach Breslau wert!

Nach kurzer Erholungspause im Hotel ging es dann in die Musikakademie, wo der Rektor Prof. Kurzyński die Mitglieder der Gesellschaft herzlich begrüßte. Als Tagungsraum stand der mustergültig restaurierte Senats-Saal, ein neogotisches Schmuckstück, zur Verfügung; in diesem würdigen Rahmen erinnerte Frau Prof. Zduniak als ausgewiesene Spezialistin an Webers Spuren in Schlesien. In ihrem Vortrag, illustriert durch zahlreiche Bilder und Klangbeispiele, betonte sie die Bedeutung von Webers erster Anstellung am Breslauer Theater für die weitere Entwicklung des Komponisten, schilderte sein Wirken als musikalischer Leiter des Theaters, seine Repertoire-Politik und beschrieb seinen Anteil am Konzertleben. Bemerkungen zu Webers kurzem, aber glücklichen Intermezzo im oberschlesischen Carlsruhe / Pokój zwischen Herbst 1806 und Februar 1807 rundeten die kenntnisreiche Gesamtschau zur Thematik ab.

Nach der Mitgliederversammlung erwartete die Gäste im Konzertsaal der Musikakademie, in dessen Foyer eine kleine Ausstellung die Weber-Bestände der Hochschul-Bibliothek präsentierte, ein Konzert von Studenten und Lehrkräften. Im Mittelpunkt stand selbstverständlich Weber, dessen Trio op. 63 (JV 259), von Anna Chudzio (Flöte), Urszula Marciniec-Mazur (Cello) und Magdalena Blum (Klavier) sehr ansprechend und mit viel Charme gespielt, das Programm eröffnete. Ewa Czermak folgte, begleitet von Magdalena Blum, mit Agathes großer Szene und Arie aus dem Freischütz und Maciej Dobosz (Klarinette) und Helena Furmanowicz (Klavier) beteiligten sich mit dem 2. und 3. Satz aus Webers 2. Klarinetten-Konzert op. 74 (JV 118) – eine besondere Leistung, denn der eigentliche vorgesehene Solist, Jaroslaw Podsiadlik, hatte gerade zwei Tage vor dem Konzert krankheitsbedingt absagen müssen; den „Einspringern“ gebührt Hochachtung! Auf Wunsch aus den Reihen der Weber-Gesellschaft waren außerdem Werke von Karol Lipiński, dem Namenspatron der Hochschule, zu hören. Andrzej Ładomirski begeisterte mit dessen höchst virtuoser Kaprys D-Dur op. 29/2 für Violine solo; den Ausklang bildete die Polonez A-Dur für Streichquartett (op. 9/1), interpretiert von Jarosław Pietrzak, Beata Solnicka, Zbigniew Czarnota und Urszula Marciniec-Mazur.

Eine wundervolle Möglichkeit zum Austausch mit den Künstlern, zum Vertiefen alter und zum Aufbau neuer Kontakte und Freundschaften bot der anschließende Empfang im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland, zu dem Konsulin Annette Bußmann gebeten hatte. Verwöhnt mit einem reichen Büffet und erfüllt von den vielen neuen Eindrücken genossen die Weberianer den gelungenen Ausklang dieses ereignisreichen Tages.

Der Sonntagvormittag stand schließlich eher unter „touristischen“ Vorzeichen. Frau Prof. Zduniak bot einen Spaziergang durch die Stadt an, der weitere Sehenswürdigkeiten präsentierte: die Rotunde mit dem beeindruckenden, etwa 15 x 114 Meter großen Panorama-Gemälde der Schlacht von Racławice (1893/94 gemalt unter Leitung von Jan Styka und Wojciech Kossak zum 100. Jahrestag des Kosciuszko-Aufstandes), das nach seiner Rettung im zweiten Weltkrieg von Lemberg nach Breslau gebracht und aufwendig restauriert worden war, die imposante Maria-Magdalenen-Kirche und den großzügigen Marktplatz mit dem einmaligen gotischen Rathaus. Dann konnte jeder sein persönliches Programm gestalten, und der Möglichkeiten waren genug, lockten doch noch unzählige weitere geschichtsträchtige Orte, wie etwa die Elisabethkirche, an der Webers Freund Friedrich Wilhelm Berner als Organist gewirkt hatte, die barocke Universität, in deren Aula Leopoldina Weber konzertierte, und natürlich – nicht zu vergessen – die Gedenktafel, die an den Standort von Webers einstigem Wohnhaus in Breslau (ehem. Taschenstr. 31, heute ul. Piotra Skargi), gegenüber dem ebenfalls nicht mehr existierenden alten Breslauer Theater, erinnert. Trotz Regens war die Stimmung glänzend, und auf der Rückfahrt nach Görlitz gab es nur begeisterte Stimmen über die gelungene Fahrt nach Wrocław. Ein großes Dankeschön an alle, die an der Vorbereitung und Durchführung dieser Tour Anteil hatten, ganz besonders aber an Frau Prof. Zduniak und die Musikakademie sowie an unsere „Reiseleiterin“ Irmlind Capelle.

Frank Ziegler