Jahresversammlung 1997

Mitgliedertreffen in Berlin, 25. und 26. Oktober 1997

Geradezu fürnehm fing es an, das letztjährige Mitgliedertreffen am 25. und 26. Oktober in Berlin. Im vorbildlich restaurierten Empfangszimmer des Generaldirektors der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Unter den Linden bestaunten die ehemaligen Leiter dieser altehrwürdigen Einrichtung von den Wänden herab die recht zahlreich aus allen Winkeln herbeigeströmten Weberianer, die sich nicht nur einer sehr herzlichen Begrüßung durch den Hausherrn, Dr. Antonius Jammers, zu erfreuen hatten, sondern auch während der Mitgliederversammlung von den Mitarbeitern der Weber-Ausgabe aufs angenehmste mit Tee, Kaffee und Leckereien bewirtet wurden. Die gute Stimmung, die dieses Ambiente verbreitete, hielt denn auch während der beiden Tage trotz klirrender Kälte unvermindert an, so dass auch die von weither angereisten Gäste, darunter Frau Prof. Dr. Maria Zduniak aus Breslau, Frau Dr. Lolita Furmane und Herr Mikus Čeže aus Riga, Herr Klaus Henning Oelmann aus Tromsø sowie Prof. Dr. John Warrack aus Oxford, die Strapazen der Anreise sicherlich nicht bereut haben. Leider konnte unser Ehrenvorsitzender, Hans-Jürgen Freiherr von Weber mit seiner Gattin diesmal nicht an dem Treffen teilnehmen, erfreulicherweise vertrat ihn aber sein Sohn Christian Max Maria Freiherr von Weber, der trotz beruflicher Belastungen aus Zürich angereist war. Schließlich freute man sich auch, dass Prof. Dr. Finscher in diesem Jahr einmal wieder mit dabei war. Ein „harter Kern“ findet sich nun ohnehin mit einiger Zuverlässigkeit bei diesen Treffen ein, so dass sich allmählich etwas ähnliches wie das in der Politik so viel beschworene „Wir“-Gefühl einzustellen beginnt. Dieses Gefühl hat – wie sich auf der Mitgliederversammlung herausstellte – in zweierlei Hinsicht seine Berechtigung: Zum einen darf man auf die bisherigen Aktivitäten der Weberianer durchaus ein wenig stolz sein, zum anderen bedarf die ernsthafte Unterstützung des Projekts der Gesamtausgabe in Zukunft verstärkter gemeinsamer Anstrengungen. Doch Klagen sind hier nicht das Thema, vielmehr ist von rundum Erfreulichem zu berichten.

Am Rande der Mitgliederversammlung wurde diesmal einiges geboten: Nicht nur konnte ein kurzer Ausschnitt aus dem von den beiden Rigaern mitgebrachten Abu-Hassan-Video bewundert werden, in der Tagungsmappe gab es auch einiges mitzunehmen, darunter den gerade frisch erschienenen Hochglanzprospekt der Gesamtausgabe und ausführliche Informationsmaterialien zur diesjährigen Versammlung in Marktoberdorf. Außerdem konnten Bände der Weber-Studien und des Darmstädter Ausstellungskatalogs erworben werden und – last not least – gab es im Vorraum eine kleine Ausstellung zur Arbeit an dem Messenband, wobei u. a. das Autograph der Es-Dur-Messe Webers präsentiert wurde.

Im Anschluss an die Mitgliederversammlung lud zunächst Herr Dr. Hell in den Lesesaal der frisch restaurierten und soeben wiedervereinten Musikabteilung ein und erläuterte den Mitgliedern Struktur und Bedeutung dieser nun größten Musiksammlung Deutschlands für die internationale Forschung. Dabei gab er als Leiter der Abteilung seiner Freude darüber Ausdruck, das es gelungen sei, mit der Weber-Ausgabe auch im eigenen Hause den unmittelbaren Kontakt der Bibliothek zur Forschung zu pflegen. Die Bedeutung der Bibliothek liegt nach seinen Worten nicht allein im Bereich solcher Spezialsammlungen (namentlich der Handschriften von Bach, Mendelssohn Bartholdy oder Busoni), sondern ergibt sich gerade auch durch eine sehr breite Streuung: Nicht nur von nahezu allen wichtigen Musikern der Musikgeschichte gibt es wertvolle Originalhandschriften, sondern die Musiker der „zweiten und dritten Garnitur“ sind ebenso mit gewichtigen Werken vertreten.

Nachdem Herr Dr. Hell noch einige Fragen der Anwesenden, besonders zu den Verlusten der Bibliothek im Zweiten Weltkrieg und zur sogenannten Deutschen Musiksammlung beantwortet hatte, übernahmen die Mitarbeiter der Weber-Ausgabe, Frau Bartlitz, Frau Beck und Herr Ziegler die Führung durch ihre Arbeitsräume und geleiteten die Anwesenden in zwei Gruppen ins „Allerheiligste“. Hier musste jedem echten Weberianer das Herz höher schlagen: Frau Beck präsentierte die Originale des Weberschen Tagebuchs aus dem Jahre 1812 (mit der Silvana-Premiere) und 1821 (ohne das durch vieles Vorzeigen bereits arg maltraitierte Blatt vom 18. Juni 1821) sowie die Übertragungen von Ida Jähns, Mathilde von Weber und Franz Zapf. Frank Ziegler hatte als besondere Kostbarkeit die sonst im Tresor befindliche Jähnssche „Weber-Truhe“ mit den Stickereien von Ida Jähns hervorgeholt. In diesem Schmuckstück liegt u. a. das Original der Peter-Schmoll-Partitur. Zu sehen gab es auch die originale Druckvorlage zum Weber-Werkverzeichnis von Jähns, die Mappen mit den für die Weberforschung ungeheuer wichtigen Nachträgen zum Werkverzeichnis und den kalligraphischen Katalog der Sammlung Weberiana von Jähns. In dem hochherrschaftlichen Zimmer, das sich die Mendelssohn- und Weber-Gesellschaft teilen, zeigte dann Frau Bartlitz in einer liebevoll aufbereiteten und optisch ansprechenden „Autographen-Rotunde“ wichtige Briefe aus dem gerade aufgearbeiteten umfangreichen Jähnsschen Briefnachlass, in der Mitte ein Ausleihschein, demzufolge Jähns sich aus der Königlichen Bibliothek Dresden das Autograph der Euryanthe entliehen hatte – Dr. Karl W. Geck nahm es mit Schmunzeln zur Kenntnis, will diese Praxis in der Musikabteilung der jetzigen Sächsischen Landesbibliothek allerdings nicht weiterführen … Briefe von Webers Schüler Julius Benedict, vom Klarinettisten Carl Baermann, von Ernst Pasqué und anderen gab es hier zu bewundern. Reich an Eindrücken verließen die Mitglieder das gastliche Haus Unter den Linden und ließen den Abend gemütlich im Raabe-Keller des Ermelerhauses ausklingen – auch diese Wahl war beziehungsreich, denn im Hause Ermeler hatte einst der Weber-Forscher Jähns verkehrt und gelegentlich einer Privataufführung der Euryanthe seine Fähigkeiten als Sänger (mit der Partie des Lysiart!) unter Beweis gestellt.

Trotz schlechter Wettervorhersage empfing die Weberianer am nächsten Morgen früh ein zwar lausig kaltes, aber ansonsten strahlend blaues Oktoberwetter vor der Deutschen Bank Unter den Linden, an der Stelle, an der seit Februar 1823 Adolph Martin Schlesinger in Nr. 34 seinen Musikverlag hatte (nach dem Umzug aus der Breiten Straße Nr. 8). Im Dezember 1826 fand in diesem Hause im kleinen Kreise die erste Berliner Aufführung des Oberon mit Kapellmeister Heinrich Dorn und dem jungen Mendelssohn am Klavier statt. Frank Ziegler zückte hier seinen Leporello und schlüpfte mit den Erläuterungen zur ursprünglichen Gestalt der Straße Unter den Linden für nahezu drei Stunden in die Rolle eines beschlagenen und zugleich brillant-unterhaltsamen Kulturführers durch das Berlin zur Zeit Webers. Auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging Weber ein und aus: In dem zunächst von J. A. Nering 1687/88 als Marstall errichteten Vorgängerbau der heutigen Staatsbibliothek, der wenige Jahre später für die neugegründete Akademie der Künste aufgestockt und später nochmals erweitert wurde, traf sich zu Webers Zeit die Zeltersche Singakademie, die erst 1828 in ihr neues, nach Schinkels Entwürfen erbautes Domizil am Kastanienwäldchen umzog.

Station 2 war der im wesentlichen unter Friedrich II. von seinem Architekten Knobelsdorff geplante Opernplatz mit Hofoper, Prinz-Heinrich-Palais, Hedwigskathedrale und dem nach Entwürfen Fischer von Erlachs (eigentlich für den Michaelertrakt der Wiener Hofburg) gestalteten alten Sitz der Königlichen Bibliothek, im Berliner Volksmund als „Kommode“ bezeichnet, den Caroline von Weber 1851 als Aufbewahrungsort des Freischütz-Autographs ausersehen hatte, und in dem Jähns, dessen Weber-Sammlung die Bibliothek 1881 erwarb, häufig arbeitete. Natürlich musste auch vor der insgesamt dreimal zerstörten Oper, in der u. a. Webers Schauspielmusiken zu Preciosa sowie zu Carlo von Blankensee uraufgeführt worden waren, eine Gedenkminute eingelegt werden, hatte doch Weber das Haus häufig besucht, u. a. am Karfreitag 1812, wie Ziegler aus dem Tagebuch des Komponisten wusste, der dazu notierte hatte: Mittag bey Lauska mit [Bernhard Anselm] Weber[,] Bärm:[ann,] Möser. sehr lustig, Möser höllisch besoffen, dito Weber. Nein!! von da in den Tod Jesu [Passions-Oratorium von Carl H. Graun] gegangen (ohne Kommentar!). Und gleich gegenüber, im Gebäude der Universität wohnte und lehrte Webers Freund, der Zoologe Hinrich Lichtenstein. Weber fand bei seinen Berlin-Besuchen im Herbst 1814 und Ende 1816 bei Lichtenstein Quartier und erhielt hier am 25.12.1816 seinen Anstellungsbrief als sächsischer Hofkapellmeister.

Weitere Stationen waren der Platz gegenüber der Neuen Wache (hier gab es Erläuterungen zur einst geplanten Via triumphalis), die Schinkelsche Schlossbrücke, das an verborgener Stelle erhaltene Portal der ehemaligen Bauakademie mit Terrakottareliefs und Türflügeln von Christian Friedrich Tieck (einem Bruder von Ludwig) und August Kiß sowie das zwischen 1819 und 1826 entstandene Blücher-Denkmal (mit einer Relief-Darstellung von Körners Tod). Von dort ging es vorbei an der Baustelle Ecke Behrenstraße/Margrafenstraße (in Nr. 34 wohnte Weber in den Tagen der Freischütz-Uraufführung und später zur Berliner Euryanthen-Erstaufführung 1825 bei Wilhelm Beer) zum Gendarmenmarkt, dessen preußisch-streng gegliedertes, in seinen Proportionen aber meisterhaft ausgewogenes Ensemble Ziegler im Sonnenglanze erläuterte, natürlich ohne die im Schinkelschen Schauspielhaus (bzw. seinem Vorgängerbau) stattgefundenen Weber-Aufführungen (Silvana 1812, Abu Hassan 1813, Musik zu Yngurd 1817 und Freischütz 1821) zu vergessen. Dabei erinnerte er auch an Webers Konzerte mit Heinrich Baermann 1812 und die Uraufführung des Konzertstücks 1821 in diesem Haus.

Auf dem Weg zur U-Bahn wurde dann an der Stelle des 1811 eröffneten Weinkellers von Lutter & Wegner eine Gedenkminute eingelegt, was natürlich unseren als E.-T.-A.-Hoffmann-Spezialisten bekannten Herausgeber der Weber-Ausgabe besonders freuen musste (Hoffmann, der hier des öfteren mit Ludwig Devrient zechte, wohnte im ersten Stock des Eckhauses Charlotten-/Taubenstraße).

Per U-Bahn ging es zum zweiten Teil des Programms: einer Besichtigung der Friedhöfe vor dem Halleschen Tor (vgl. dazu auch S. 97-100). Was Ziegler hier in einem Zick-Zack-Kurs über die Friedhöfe an Grabstätten bekannter Berliner oder von Zeitgenossen Webers entdeckt hatte, war beachtlich; seine Einbindung der nackten, kalten Grabsteine in den historischen Kontext und das Umfeld Webers fesselte die nimmermüden Spaziergänger bis zum Schluss. Die Fülle der Namen entgleitet schnell dem schwachen Gedächtnis, ein Grab aber verdient der besonderen Erwähnung (Ziegler hatte es wohl auch lange gesucht): Der Weber-Forscher, dessen Verdienste uns immer bedeutender erscheinen, je länger wir uns mit Weber beschäftigen, fand hier seine letzte Ruhestätte: Friedrich Wilhelm Jähns. Ein schlichtes hohes Grabmal erinnert hier an ihn und seine Gattin Ida, geborene Klöden.

Voller neuer Eindrücke trennte sich die kleine Gruppe der Weberianer am frühen Nachmittag, um sich dann des Abends in dem zuvor von außen besichtigten Schauspielhaus zur Aufführung von Mozarts c-Moll-Messe KV 427 und der G-Dur-Messe Webers zu treffen. Webers Jubelmesse, die erstmals nach dem von der Gesamtausgabe erstellten neuen Material erklang, war für uns natürlich trotz ihrer Kürze der Höhepunkt des Abends. Der Chor der Singakademie zeigte sich dabei von seiner besten Seite, Orchester und Solisten (Anna Korondi – Sopran, Elisabeth Wilke – Mezzo, Scot Weir – Tenor, Andreas Scheibner – Bariton) waren dagegen nicht immer ganz ausgewogen, der Sopranistin fehlte vor allem im Offertorium der in Webers Partitur berücksichtigte „Pferde-Atem“ Sassarolis. Obwohl der Einstudierung in manchen Passagen die unruhige „Frische“ noch etwas anzumerken war, fanden die Musizierenden insgesamt doch zu einer überzeugenden Interpretation. Der Dirigent Achim Zimmermann hatte sehr passende Tempi gewählt, wusste z. B. im Agnus Dei wirklich großräumige Bögen zu spannen und verfiel nicht in den Fehler, aus dem Dona nobis einen frivolen, „Ännchen-haften“ Ausklang zu machen, sondern führte es in einem wunderschön zurückgenommenen Tempo zum Schluss – eine Gestaltung dieses Abschnitts, die so überzeugend noch nicht zu hören war. Zu dem Konzert hatte die Weber-Gesellschaft u. a. durch Übernahme der Leihgebühren für die Notenmaterialien beigetragen.

So ging ein Treffen harmonisch zu Ende, an das sich die anwesenden Mitglieder bestimmt noch lange gerne erinnern werden. Wenn ein Mitglied am Ende des Treffens sogar bemerkte, dass dies wohl das attraktivste und gelungenste der bisherigen jährlichen Treffen war, ist dem wohl nichts hinzuzufügen ausser einem herzlichen Dank an das Berliner Organisationsteam!

Joachim Veit