Jahresversammlung London 2017

„Wenn ich nur erst in London bin …“ – Das Mitgliedertreffen der Weber-Gesellschaft in London vom 10. bis 12. Februar 2017

London im Februar – da mag sich sicherlich manches Mitglied der Gesellschaft gefragt haben, ob es nicht erfreulichere Reisezeiten geben mag für eine Reise auf die Insel. Die Antwort gaben die zahlreichen Weberianer, die ungeachtet des regnerischen Wetters den Weg in die Stadt fanden, die mit Webers letzten Lebensjahren und der Komposition des Oberon auf das engste verknüpft ist. Denn dass die Idee, einmal – und überhaupt das erste Mal – das Jahrestreffen in der britischen Hauptstadt abzuhalten, zwar einen etwas erhöhten Reiseaufwand mit sich bringen würde (von der Reaktivierung der Englischkenntnisse einmal ganz abgesehen), war allen Beteiligten klar. Umso erfreulicher war es auch, dass die nicht unbeträchtliche Anzahl der Mitglieder, die die Mühen der Anreise und die frischen Temperaturen auf sich genommen hatte, den Ausflug nicht nur wegen des reichen Kulturangebots der Stadt, sondern auch wegen der im Mittelpunkt des Jahrestreffens stehenden Konferenz mit dem Thema „Weber in London: Opera and Cosmopolitanism“ und den zahlreichen Konzerten als Bereicherung empfand. Die Organisatoren der Veranstaltungen – der Vorstand der Weber-Gesellschaft in Kooperation mit Wiebke Thormählen vom renommierten Royal College of Music, in dessen Mauern sämtliche Veranstaltungen des Weber-Treffens abgehalten wurden – hatten schließlich keinen Aufwand gescheut, ein überaus professionelles und anspruchsvolles Programm zusammenzustellen, das inhaltlich in allen Aspekten überzeugte. Das Jahrestreffen begann am Freitagnachmittag mit einem Überblick von Joachim Veit zu den „Modifikationen unseres Weber-Bildes im Kontext der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe“, in dem die Notwendigkeit angesprochen wurde, das Œuvre und die Biographie Webers durch die neuesten wissenschaftliche Methoden zu befragen und für die Gegenwart aufzuschließen. Die Präsenz eines Komponisten im Musikleben der Gegenwart – so der Tenor seiner Ausführungen – ist nicht allein abhängig von der Anzahl der Aufführungen, sondern auch von der Qualität des Notenmaterials und der Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Informationen. Ohne eine beständige Aktualisierung des diesbezüglichen Wissens fehlen letztlich die Anreize, sich produktiv mit dem künstlerischen Schaffen einer so prägenden Gestalt wie Weber auseinanderzusetzen. Die anschließende Aufführung von Webers Klarinettenquintett nach der Edition der Gesamtausgabe veranschaulichte, welche Folgen die Edition dieses Werkes für die musikalische Praxis hat, insbesondere wenn das Werk in der von Weber komponierten und in dem betreffenden Band der Gesamtausgabe freigelegten Gestalt, die dem Interpreten weitaus mehr Freiheiten lässt, gespielt wird, statt in der durch Bärmanns Sohn maßgeblich geprägten Überlieferung mit zahlreichen interpretatorischen Festlegungen. Die Ausführung durch den Klarinettisten Colin Lawson, einem am Royal College lehrenden und international renommierten Spezialisten der historischen Aufführungspraxis, sowie einem aus Studierenden des Royal College gebildeten Streichquartett (Gabriella Jones, Charlotte Saluste-Bridoux, Violinen, Gerardo Mendez Juarez, Viola, Jobine Siekman, Violoncello), vermittelte einen Eindruck, wie frisch Webers Werke bei entsprechender Qualität der musikalischen Ausbildung und genauer Kenntnis der historischen Spielweisen (und nicht zuletzt in Kombination mit wissenschaftlich erarbeitetem Notenmaterial) klingen können. Den Abschluss des Nachmittags bildeten die kenntnisreichen Ausführungen des Bibliothekars des Royal College, Peter Horton, zu den Verbindungslinien von Weber zu London, mit denen er in eine kleine, aber feine Ausstellung von Memorabilia und Dokumenten aus dem Bestand des Royal College einführte. Diese zeigte unter anderem eine deutsche Partiturabschrift des Freischütz, die dem Kapellmeister William Hawes als Grundlage der Londoner Bearbeitung diente, englische Musikdrucke, ein Konzertprogramm, ein Theaterzettel, Rezensionen, Briefe sowie das Porträt von John Cawse, die Büste von Josephus Kendrick und die Totenmaske des Komponisten. Das gänzlich mit Werken von Weber programmierte Abendkonzert in der Amaryllis Fleming Concert Hall des College setzte danach den Schlusspunkt des ersten Tages. Dass dieses zugleich zu einem der musikalischen Höhepunkte des Mitgliedertreffens wurde, hatte seinen Grund in der schon erwähnten außergewöhnlich hohen Qualität der musikalischen Ausbildung am Royal College, die sich in allen gespielten Werken niederschlug. Denn neben den von Colin Lawson zusammen mit seinem Kollegen Geoffrey Govier am Hammerflügel beeindruckend virtuos vorgetragenen Silvana-Variationen (WeV P.7) und dem Grand Duo Concertant (WeV P.12) kamen weitere Werke zur Aufführung, die von den Studenten ausgewählt und selbständig einstudiert worden waren. So ließen die drei ausgewählten Nummern der Schottischen Lieder (WeV U.16), die gleich zu Beginn die junge Sopranistin Rowan Pierce zusammen mit Mafalda Ramos, Flöte, Anna Waszak, Violine, Susanna Meszaros, Violoncello, und Alicia Juan, Hammerflügel, vortrug, erkennen, auf welchem hohen Niveau die Auseinandersetzung mit Webers Werken im Royal College erfolgte. Schon nach dieser Komposition war unter den zahlreichen Zuhörern durchweg das große Bedauern spürbar, auf die anderen Lieder verzichten zu müssen. Ein anonymes Arrangement von zwei Nummern aus dem Freischütz für drei Fagotte – auf historischen Instrumenten souverän und mit viel Spielwitz vorgetragen von Madeleine Millar, Emily Newman sowie Kristina Hedley – konnte darüber etwas hinwegtrösten. Das um 1808 entstandene Adagio und Rondo für Harmoniemusik (WeV O.3) spielten Ewan Zuckert und Brenda Lopez (Klarinette), Newman und Hedley (Fagott) sowie Matthew Horn und Fabian van de Geest (Horn) dann so klar und beeindruckend, wie es selten zu hören ist. Auch das durch Sofia Kolupov (Violine), Tilly Chester (Viola), Carola Krebs (Violoncello) und Roelof Temmingh (Klavier) in feiner kammermusikalischer Abstimmung und mit dem angemessenen musikalischem Witz (allerdings aus Zeitgründen ohne Schlusssatz) vorgetragene Klavierquartett (WeV P.5), dessen Aufführung leider durch eine längere Störung in der Saalbeleuchtung beeinträchtigt wurde, erregte zu Recht große Begeisterung im Publikum. Unterstützt wurde diese aussergewöhnliche Leistung aller Beteiligten durch Bereitstellung von Notenmaterial aus der Gesamtausgabe seitens der Weber-Gesellschaft.

Ein reiches Programm erwartete die Teilnehmer am Samstag. Im Mittelpunkt stand die Konferenz „Weber in London: Opera and Cosmopolitanism“. Die hochkarätigen Referate umfassten zahlreiche Aspekte des Opernschaffens zu Webers Zeit und fokussierten insbesondere die damalige Situation in London. So sprach Ryan Minor über inszenierte Chorproben in Albert Lortings Opern, Axel Körner über Webers Böhmen-Bild, Tina Köth-Kley zu Spohrs Umarbeitung seiner Oper Faust für die Royal Italian Opera; Solveig Schreiter thematisierte das Oberon-Libretto im Kontext der deutschen und englischen Dramatisierungen des Sujets, Irmlind Capelle die Überarbeitung und Aufführung von Webers Jubel-Kantate in London; Wiebke Thormählen widmete sich den Entstehungsbedingungen des Freischütz in London, während Susan Rutherford den Einfluss der deutschen Opernpraxis auf die Londoner Bühnen untersuchte und Monika Hennemann die britische Weber-Rezeption im 19. Jahrhundert in den Blick nahm. Peter Stadlers Vorstellung des Projekts „Freischütz Digital“ und der digitalen Anteile der Weber-Gesamtausgabe sowie ein Roundtable zum Thema „Performing Weber Today“ unter der Gesprächsleitung der renommierten Opernforschers Roger Parker rundeten den spannenden und bereichernden Tag ab, der anschließend im nahegelegenen Restaurant „Ognisko“ mit polnischer Küche und angeregten Gesprächen in geselliger Runde ausklang.

Nach der Mitgliederversammlung der Weber-Gesellschaft am Sonntagvormittag, auf der die langjährige Erste Vorsitzende Irmlind Capelle unter großem Applaus verabschiedet wurde, erklangen abschließend in einem fulminanten Konzert mit dem Classical Orchestra des Royal College und Mitgliedern des Utrechts Conservatorium unter der Leitung von Ben Palmer in historischer informierter Aufführungspraxis Webers Ouvertüren Der Beherrscher der Geister (WeV M.5) sowie diejenige zum Freischütz. Machten diese Aufführungen unmissverständlich klar, warum von diesen Werken Webers in ihrer Entstehungszeit eine so außergewöhnliche Wirkung ausging, so zeigten auch die beiden Konzertarien „Il momento s’avvicina – La dolce speranza“ (WeV E.1) und „Misera me!“ (WeV E.3) mit den bravourösen Sopranistinnen Charlotte Hoather bzw. Yiwen Su, wie bedauerlich es ist, dass gerade von diesen Werken keine adäquate Einspielung – und vor allem in der gehörten Qualität – vorliegt. Gleichfalls beeindruckend war die Aufführung des Klavierkonzerts Nr. 1 mit dem technisch stupenden Solisten Ray Chi Hang Long am Hammerflügel. Es ist zu hoffen, dass die geplante Veröffentlichung der Konferenz-Vorträge verwirklicht werden kann. Doch fast noch mehr ist zu wünschen, dass die Mitwirkenden der Konzerte ihre Beschäftigung mit Webers Werken bald auch auf Tonträger festhalten und weitere Zuhörerkreise in dieser Qualität an der Reichhaltigkeit und der ästhetischen Qualität von Webers Schaffen teilhaben lassen. Webers freudiger Seufzer „Wenn ich nur erst in London bin“ im Brief vom 1. März 1826 aus Paris an seine Frau Caroline in Deutschland lässt sich nach diesem Mitgliedertreffen unschwer auf den diesjährigen Ausflug der Weberianer übertragen. Dem Vorstand sei für die gelungene Organisation dieses hochspannenden Ausflugs mit all seinen wissenschaftlichen und musikalischen Highlights herzlich gedankt.

Markus Bandur