Jahresversammlung 2007

Emsiges Treiben
Das Mitgliedertreffen in Bad Ems vom 21. bis 23. September 2007

Carl Maria von Weber besuchte das zu seiner Zeit bereits berühmte, traditionsreiche Emser Bad 1825 über einen Monat lang (15. Juli bis 20. August) – Grund genug für unsere Gesellschaft, die Stadt als Ziel ihrer Jahrestagung auszuwählen; zeitlich freilich wesentlich eingeschränkter: Gerade drei Tage mußten ausreichen, und das wie immer reichhaltige Programm ließ kaum genügend Zeit, die Beschaulichkeit des hübschen Kurortes im Lahntal ausgiebig zu genießen. Bereits der Abend des Anreisetages bot zwei interessante Programmpunkte: eine Buchpräsentation und ein Orgelkonzert. Als Gastgeber fungierte in beiden Fällen (wie auch bei den Samstags-Veranstaltungen) neben der Weber-Gesellschaft der Verein für Geschichte, Denkmal- und Landschaftspflege e. V. Bad Ems, der die Vorbereitung unseres Treffens mit großem Engagement gefördert hatte.

Die Präsentation im Kur- und Stadtmuseum eröffnete der Weber-Gesamtausgabe die Möglichkeit, gleich drei druckfrische Publikationen der Öffentlichkeit zu übergeben: Zuerst stellte Solveig Schreiter ihre Neuedition des Freischütz-Librettos vor, die gleichzeitig den Startband der neuen Reihe Opernlibretti – kritisch ediert beim Allitera Verlag München bildet. Im Gegensatz zu den geläufigen Libretto-Reihen, die allgemein ohne Quellen-Nachweise und Textkritik auskommen, sollen in dieser Sammlung auf Grundlage aller erreichbaren authentischen Textzeugen verläßliche Ausgaben erstellt werden, die auch Aussagen zur Werkgenese und zur Problematik verschiedener Fassungen enthalten. Der Herausgeberin gelang es bestens, die an sich eher „trockene“ Materie dem Publikum näherzubringen: Sie gab einen kurzen Überblick über spezielle Probleme der Überlieferung (z. B. Verlust aller direkten Uraufführungs-Quellen, fragliche Datierung der Striche Webers im Finale des III. Aufzuges) und wies anhand ausgewählter Beispiele auf interessante Abweichungen gegenüber den bislang üblichen Ausgaben hin. Die neue Edition versucht, die Einflüsse beider Autoren, des Librettisten Friedrich Kind und des Komponisten Weber, auf die Endgestalt des Werkes zu klären; als besondere Überraschung erwies sich dabei die Tatsache, daß Kind seine Arbeit am Libretto nicht mit der Uraufführung der Oper abschloß, sondern quasi bis zu seinem Tode am Text weiterfeilte. Kind, einerseits gekränkt, daß der ganze Ruhm des Erfolgswerkes ausschließlich Weber zufiel, andererseits im Nachhinein mit Kompromissen, die ihm Weber bezüglich der Gestalt der Oper abgerungen hatte, unzufrieden, veröffentlichte nach der Uraufführung 1821 insgesamt sechs Ausgaben des Freischütz-Librettos, davon drei nach Webers Tod – keine dieser Publikationen gleicht der anderen. Der Textgenese ist denn auch breiter Raum in der Neuedition gewidmet, die neben Dialogen und Gesangstexten in der Form, wie sie vermutlich bei der Uraufführung erklangen, auch ältere, von Weber verworfene Passagen (die eröffnenden Eremiten-Szenen, die Romanze des Cuno im I. Aufzug, die Prosa-Urfassung des Melodrams Caspar/Sammiel in der Wolfsschluchtszene) enthält. Eine reiche Bebilderung, darunter erstmals überhaupt alle erhaltenen ikonographischen Zeugnisse zur Uraufführung (Dekorationen, Figurinen, Szenenbilder), und interessante Materialsammlungen runden den Band ab.

Neben dieser Edition waren noch zwei weitere Bücher vorzustellen: Ebenfalls beim Allitera Verlag erschien eine Neuauflage der erstmals 2003 vorgelegten Emser Briefe Webers, hg. von Joachim Veit unter Mitarbeit von Eveline Bartlitz und Dagmar Beck. Im Gegensatz zur recht kostspieligen früheren Hard-Cover-Version wird der wesentlich preisgünstigere neue Paperback-Band, den Prof. Veit präsentierte, sicherlich eine breitere Leserschar ansprechen – die sowohl inhaltlich wie auch optisch ansprechende Edition macht die Lektüre der wundervollen Weber-Briefe zu einem doppelten Vergnügen. Last but not least stellten Manuel Gervink und Frank Ziegler den gemeinsam mit Frank Heidlberger herausgegebenen jüngsten Band der Weber-Studien vom Schott-Verlag vor, ein opulentes Buch, das die Ergebnisse der Dresdner Weber-Tagung vom Oktober 2006 mit einer Sammlung freier Aufsätze vereint. Prof. Gervink erinnerte in diesem Zusammenhang nochmals an das Symposium „Carl Maria von Weber – der Dresdner Kapellmeister und der Orchesterstil seiner Zeit“, das den Schwerpunkt des Mitgliedertreffens des vergangenen Jahres in Dresden gebildet hatte und dessen Beiträge nun in Rekordzeit von weniger als einem Jahr veröffentlicht werden konnten. Frank Ziegler gab einen Überblick über die sonstigen Aufsätze, die vielfach mit Aktivitäten der Gesellschaft verbunden sind: So können die Mitglieder drei Referate zu Webers Konzertreise 1820 nachlesen, die bei den Jahrestreffen 2004 in Ermlitz bzw. 2005 in Eutin gehalten wurden. Den kreativen Austausch zwischen Weber-Gesellschaft und -Gesamtausgabe bezeugt zudem eine Quellenstudie über die mit Weber befreundete Sängerin Helena Harlas, die Werner Krahl durch seine Recherchen zu Heinrich Baermann und dessen Familie initiiert hatte.

Nach so viel Papier tat das nachfolgende Konzert äußerst wohl: Theo Pötz, der Vorsitzende des Emser Geschichts-Vereins, begrüßte die Mitglieder der Gesellschaft und Gäste dazu in der katholischen Pfarrkirche St. Martin, einem neogotischen Bau der 1870er Jahre von seltener stilistischer Geschlossenheit und Qualität, der trotz erheblicher Einbußen in der Substanz (u. a. Abbruch der ersten Orgel, vermutlich ein Werk der berühmten französischen Werkstatt Cavaillé-Coll) noch immer beeindruckt. Organist Lutz Brenner hatte ein vielfältiges Programm zusammengestellt, das die Vorzüge der neuen Sandtner-Orgel (1995) betonte; Höhepunkt war ohne Frage die Orgelsinfonie Nr. 6 g-Moll op. 42/2 von Charles-Marie Widor. Als speziellen Gruß an die Weber-Gemeinde improvisierte Brenner eine Hommage à Weber in der Art französischer Orgelsonaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in die mit feinem Stilempfinden drei Weber-Themen eingearbeitet waren: in den Außensätzen die „Leise fromme Weise“ und der Jägerchor aus dem Freischütz, im Mittelsatz das Thema der Silvana-Variationen – mehr angedeutet und paraphrasiert als wirklich zitiert. Zum musikalischen Genuß kam hier noch die Rätsel-Freude, wer denn die meisten Weber-Anklänge entdeckte. Für Interessenten gab Kilian Schmitz, pensionierter Lehrer und ehrenamtlicher Archivar der katholischen Pfarrgemeinde, anschließend noch eine kleine Kirchenführung, die in erster Linie die viel bewunderten zeitgenössischen Ausstattungsstücke des Bildhauers Gernot Rumpf (Zelebrationsaltar, Ambo, Osterleuchter und Taufe) mit ihren vielen phantasievollen Anspielungen vorstellte.

Kilian Schmitz empfing die Mitglieder auch am nächsten Morgen in der alten katholischen Kirche Maria Königin „Auf dem Spieß“. Dieses Gotteshaus hatte Weber 1825 zur Sonntags-Messe besucht (laut Tagebuch am 17. und 31. Juli), ihr bedeutendstes Ausstattungsstück, die Orgel der Emser Firma Schöler, die Schmitz auch klanglich vorstellte, erhielt sie allerdings erst knappe fünf Jahre nach Webers Tod (Fertigstellung März 1831). Gemeinsam mit zwei Stadtführern vom Geschichtsverein, Astrid Pötz und dem Museumsdirektor Dr. Hans-Jürgen Sarholz, ging es weiter durch den Ort: Viele Gebäude und Plätze sind verbunden mit kleinen Geschichten und Erinnerungen an berühmte Kurgäste wie Gogol und Dostojewski, Goethe und Hugo, Meyerbeer und Wagner u. v. a. Neben dem Kurhaus, hervorgegangen aus dem nassau-oranischen Badehaus zur Rechten und dem hessen-darmstädtischen Neuen Bad zur Linken, und den Quellen faszinierte vor allem der herrliche Kursaal von Johann Gottfried Gutensohn (1839), in dem mehrere Jahre hindurch Jacques Offenbach mit seiner berühmten Truppe Bouffes Parisiens zur Badesaison auftrat. Das Stadtbild ist geprägt durch Bauten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg; an die Weber-Zeit erinnern dagegen nur noch wenige Häuser wie der Nassauer Hof oder das Haus zu den vier Türmen, in dem Weber 1825 abgestiegen war – dem Endpunkt des ausführlichen Stadtrundgangs.

Am Nachmittag vertieften Frau Pötz und Herr Sarholz im Stadtmuseum die Eindrücke der Führung durch zwei Vorträge zur Bäderarchitektur bzw. zur Geschichte der Badekultur in Ems. Frau Pötz zeigte nochmals Bilder von architektonischen Kleinoden der Stadt und versuchte, italienische Anregungen für Gutensohns Kursaal zu verdeutlichen (u. a. Villa Farnesina in Rom). Dr. Sarholz machte darauf aufmerksam, daß Weber, ungeachtet der langen Bade-Tradition am Ort, gerade den ersten Aufschwung der Stadt zum später mondänen Weltbad miterlebte. Als bevorzugter Badeort der Zarenfamilie (Zarin Alexandra, Zar Alexander II.) sowie des preußischen Königs bzw. deutschen Kaisers Wilhelm I. erlebte die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine nur von wenigen kriegsbedingten Stagnationen (Krimkrieg, preußisch-österreichischer bzw. deutsch-französischer Krieg) unterbrochene, noch bis zum Weltkrieg 1914/18 andauernde Blüte, an die später jedoch nie wieder angeknüpft werden konnte.

Der anschließende Vortrag von Joachim Veit galt schließlich Weber in Bad Ems, wobei nicht nur die Kur 1825, sondern besonders der Ems-Aufenthalt im Jahre 1809 erörtert wurde. Während für 1825 das Tagebuch und die Briefe Webers einen fast lückenlosen Überblick über den Kuralltag, die Ausflüge in die Umgebung und das gesellschaftliche Umfeld gestatten (vgl. die o. g. Brief-Edition), existieren zum ersten nachweisbaren Besuch recht wenige Zeugnisse. Als besonders interessant erweisen sich die Hinweise, die Maria Belli-Gontard in ihren Lebenserinnerungen gab. Ihre Aufzeichnungen sind nicht fehlerfrei (sie datierte den Besuch fälschlich mit 1805), werden aber in den Grundzügen durch andere Quellen bestätigt. Dokumente im Haupt- und Staatsarchiv Stuttgart belegen, daß Webers württembergischer Dienstherr Herzog Ludwig mehrfach zur Kur in Ems weilte. Während er 1808 Weber mit der Haushaltsführung in Stuttgart beauftragte, durfte der Privatsekretär im darauffolgenden Jahr mitreisen. Die Kurlisten im Wiesbadener Staatsarchiv geben genaue Anhaltspunkte zum Ems-Besuch im Sommer 1809. Das junge Fräulein Gontard kam auch in den Genuß einer Weberschen Musikdarbietung, meinte aber fälschlich, sie habe ihn mit dem (erst weit später komponierten) Lied Das Veilchen im Thale (sie schreibt „An ein Veilchen“) gehört; tatsächlich dürfte es sich laut Veit um Das Röschen gehandelt haben. Irmlind Capelle brachte diese Komposition, vom Referenten am Klavier begleitet, zu Gehör.

Die Ems-Besuche 1809 und 1825 rahmen gewissermaßen Webers Kuren – Joachim Veit gab einen Überblick über die Bäderreisen nach Liebwerda, Karlsbad und Marienbad, Planungen zu weiteren Kuren (u. a. in Alexisbad), erwähnte aber auch Trinkkuren im heimischen Dresden (darunter solche mit weiteren Heilwassern aus der Lahn-Region, etwa aus Selters und Geilnau). Jedem Bad, jedem Wasser wurden bestimmte Heilungsaussichten zugerechnet; verglichen mit den Krankheitssymptomen Webers ergeben sich interessante medizinhistorische Einblicke.

Als musikalischen Ausklang für seinen Vortrag wählte Veit den Weberschen Max-Walzer, der bislang mit Ems in Verbindung gebracht worden war: Beide Autographen des kleinen Klavierstücks, die seit 1945 verschollene Niederschrift für die preußische Kronprinzessin Elisabeth und jene für die russische Fürstin Maria Galitzina, waren im August 1825 während der Kur entstanden. Komponiert hatte Weber den Walzer jedoch, wie inzwischen Forschungen der Gesamtausgabe ergaben, spätestens 1824 (evtl. sogar schon 1823), vermutlich als Geburtstagsgeschenk für seinen kleinen Sohn Max Maria.

In den Pausen zwischen den Vorträgen gab es ausreichend Zeit, das interessante Kur- und Stadtmuseum näher in Augenschein zu nehmen. Nach der sich anschließenden Mitgliederversammlung zeigte Alfred Haack schließlich eine Bild- und Ton-Präsentation zu den Weber-Musiktagen im schlesischen Pokój/Carlsruhe. Zum Ausklang des Tages ging es per Kurwaldbahn zum Bismarckturm hinauf. Hoch über dem Lahntal, mit einem herrlichen Blick auf die abendliche Stadt, konnten beim gemütlichen Beisammensein in der Gaststätte Bismarck’s die zahlreichen Eindrücke des Tages nochmals erörtert werden.

Die ganz Unermüdlichen hatten schließlich am Sonntag Gelegenheit zu einem Ausflug nach Nassau – auch Weber hatte die hübsche Nachbargemeinde von Ems unterhalb der gleichnamigen Burg – der gemeinschaftlichen Stammburg des niederländischen Königshauses (Haus Oranien-Nassau) und des großherzoglichen Hauses von Luxemburg – 1825 mehrfach besucht. Ziel der Weberianer war das Schloß des Reichsfreiherrn Karl vom und zum Stein (1757-1831). Heike Pfaff empfing die Gesellschaft im Ehrenhof, wo sie einleitend über den ehemaligen Hausherrn, den 2007 mit einem Freiherr-vom-Stein-Jahr geehrten großen preußischen Minister und Staatsreformer informierte. Leider kann das noch immer privat bewohnte Schloß, ein architektonisches Konglomerat aus Renaissance-Hauptbau, Barock-Seitenflügeln und historistischem Turm, nicht komplett besichtigt werden (der heutige Besitzer Graf Kanitz ist ein direkter Nachfahre des Freiherrn vom Stein), nur der vom Freiherrn zur Erinnerung an die antinapoleonischen Befreiungskriege erbaute Turm stand uns offen: ein früher neogotischer Bau (1815/16) nach Entwürfen des Koblenzer Architekten Johann Claudius von Lassaulx, ausgeführt vom nassauischen Bauinspektor Christian Zais. Die „Ruhmeshalle“ im Obergeschoß erinnert an die Schlachten gegen Napoleon und an die „heilige Allianz“ der Siegermächte von 1813 und 1815 (mit Büsten der Monarchen von Christian Daniel Rauch) – eine interessante patriotische (nicht nationalistische!) „Weihestätte“ , wie sie uns Heutigen fremd geworden sein mag, die aber doch eindrücklich die nationale Begeisterung jener Zeit vor dem Einsetzen der Restauration spiegelt. Die als national verstandene Mittelalter-Begeisterung, die in Bauten wie diesem Erinnerungsturm oder Schinkels Berliner Kreuzberg-Denkmal in Form einer gotischen Kirchturmspitze (und selbst im Libretto der Euryanthe) Ausdruck findet, atmet denselben Geist wie Körners Verse aus Leyer und Schwert, die untrennbar mit Webers Melodien verbunden sind.

Die drei sonnenverwöhnten Spätsommertage an der Lahn werden sicherlich vielen Mitgliedern in angenehmer Erinnerung bleiben – für die Planung, Vorbereitung und gelungene Durchführung sind wir dem Geschichtsverein in Bad Ems, aber auch unserer Vorsitzenden Irmlind Capelle zu großem Dank verpflichtet.

Frank Ziegler